Sonntag, 8. Februar 2009

Nietzsche und der Chor

Nietzsche schreibt über Schlegels Auffassung vom Chor in der Tragödie, dass das „Idealische“ - die Annahme, der Chor sei Spiegelbild der Zuschauer – zu kurz gedacht sei. Er setzt fort, dass die Interpretation Schillers mehr Stimmigkeit aufweise, der gesagt hat, der Chor sei wie eine Mauer, eine Art extra künstliches Element, um den Zuschauer sofort begreiflich zu machen, dass die Tragödie keine Abbildung der Realität sei. Der Chor sei aus den Mythen behandelnden ersten Stücken vor der großen Zeit der attischen Tragödien entstanden, um den Zusammenhang des Satyrspieles zu wahren: Wenngleich die Götterwelt Spiegel der menschlichen Handlungen war, so blieb sie stets immer Fiktion, Erfindung, Spiel. Es ist kurios, aber mir fällt dabei Helmut Kraussers Wort von dem „Fortschritt“ ein, den die Kunst eben auch gemacht hat. Jeweils die Künstler und das Publikum haben in den vielen Jahrhunderten gelernt, wie Glaubwürdigkeit innerhalb eines fiktionalen Moments entsteht. Die Athener vor den großen Perserschlachten hatten keine derartig sozialkulturelle Entwicklung durchgemacht, die dann auf die Kunstproduktion entsprechend einwirkte. Ich kann mir denken, dass das heutige Befremden gegenüber dem Chor – dass er existiert, dass er eine tragende Rolle im Stück spielt – ein Resultat dieses „Fortschrittes“ ist. Es ist zwar blasphemisch, aber eigentlich richtig: Kann man sich beim „Terminator“ etwa einen Chor vorstellen – oder bei Harry Potter. Schon in den Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts ist ein Chor eine aberwitzige und abstruse Vorstellung. Ich denke auch, dass der Chor entstanden ist aus dem Umstand, dass die Demen – die Bezirksverwaltungen, beziehungsweise Männerbünde in den einzelnen Bezirken – Wettkämpfe im Chorgesang organisiert hatten. So ist weiter vorstellbar, dass der Chor in den Stücken mit Musik vorgetragen wurde, dass also die attischen Tragödien halbe Opern gewesen waren. Denn in der Oper ist der Chor ja noch unentbehrlich. Was Nietzsche bisher nicht anspricht, ist das, was Christian Meier in seinem Athen-Buch so großartig beschreibend gelungen ist. Die attische Tragödie ist auch deswegen entstanden, weil es Athen gleich dreimal gelungen war, die persische Übermacht zu schlagen. Athen sah sich innerhalb von zehn Jahren plötzlich zu einer regionalen Übermacht aufsteigen, was alles veränderte. Und die Probleme waren auch plötzlich andere für die Stadt. Aischylos Stücke reagierten ja auf die veränderte politisch-soziale Sachlage der Stadt.


Aufregend auch die Darstellung Nietzsches vom Entstehen des Chors aus dem Geiste des Satyrspieles. Es gab ja als solches um circa 550 v. Chr. keine Bühne in unserem Verständnis. Es gab keine Bühnentradition. Damit aber überhaupt die Vorstellung von Bühne entstehen konnte, bedurfte es des Satyrchores. Gemeinsames Singen und Tanzen hieß nicht: Hier findet eine Darstellung auf einer Fläche statt, die dann Bühne später genannt wird. Die Fläche war die Vision des Chores. Die Vision verwandelte die Fläche in eine Bühne. Die Vision schaute in das Angesicht des Gottes Dionysos. Der Rausch und die Entzückung waren noch an die Religion gebunden.

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