Was man bei der „Geburt der Tragödie“ merkt, ist der Jugendstilcharakter, der durch den Ton und Stil des Verfassers dringt. Das Erstaunliche ist, dass Nietzsche seine Schrift kurz nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 verfasste, aber der Erfolg seiner Schriften und Gedanken erst nach seiner endgültigen Demenz 1889 einsetzte. Diese ganze Wandervogelgeschichte, der materlincksche Einschlag, das nahezu ungebremste Pathos in einer Strömung der deutschen Literatur von 1890 bis 1914, das Betonen des Schwärmerischen als Naturzustand des Jugendlichen: Das alles ist in dem Ton der „Geburt“ und auch im „Zarathustra“ vorweggenommen.
Und die Bilder, die er entwirft - der in den Himmelslüften tanzende Mensch, diese ganze Elevationsmetaphorik: Sie ist eine Vorwegnahme einer Jugendkultur, die mir heute grausig vorkommt. Nur zur damaligen Zeit war sie eine wortwörtliche Erhebung gegen die elterliche Ordnung gewesen. In Nietzsches Texten aus der späten Schaffensperiode – zum Beispiel im Vorwort der „Geburt“ – erscheint der Spuk seines elterlichen Christenpastorhauses, gegen das er ankämpfen musste. Das BÖSE und FALSCHE war wohl die frauenüberschüssige Familie gewesen, die den früh verstorbenen Vater eigentlich vor den Augen des Sohnes symbolisch noch mal begraben hatte. Man merkt in Nietzsches Ton, in seiner Wortwahl jene Neurose gegenüber einer Frauenübermacht an. Darum auch besingt er so schön und unschön zugleich die künftigen „Drachentöter“ – und meint damit die künftige, von aller elterlich-autoritären Ordnungslast befreite Generation.
Das Lesen dieses Buches erschreckt zu Beginn, weil es in sich ein Gran abgestandener Gelehrtheit enthält: Es ist ja auch so oft durchgenommen worden, dieses Buch des „Rätselfreundes“. Auch in „Phonon“, also bei Dath – sowie bei Goetz – steckt eben das Nietzscheanische, das Verkündende, das Heil in der Zukunft, das in der Möglichkeit des „Jetzt“ und „Heute“ als Sozialding-Erwünschenswertes formuliert wird. Daths Roman „Phonon“ beispielsweise berauscht durchaus den Leser, erneuert die Hirnwindungsstrukturen. Es gibt darin manchmal dieses komische schwer fassbare Zwischen-den-Zeilen, das als leiser Ton daher kommt: Das Buch scheint zu flüstern: Sieh mich an!
Was so entscheidend für einen heutigen Leser bei der „Geburt“ anmutet, ist der Umstand, dass Nietzsche zwar mit der Beschreibung der apollinischen Kunst auf den „naiven“ Homer verweist, dass aber in einem zeitübergreifenden Akt des Textüberlebens damit die heutige Kulturproduktion mit ihrer Generierung der Fantasy-Welten erfasst wird.
Umfassend auch der Gedanke vom eigentlichen Werden des Menschen innerhalb eines Prozesses der Versunkenheit in ein ästhetisches Produkt, sein Involviert-Sein. Er empfindet eine fortlaufende Entwicklung seines Seins offenbar erst beim und durch das Hören und Sehen. Egal, welches Niveau ein Kunstprodukt aufbietet, sein Ur-Sein findet immer Erlösung im Alkohol der Künste.
Immer wieder spricht Nietzsche vom „Übermaass“ – immer wieder taucht dieser Begriff auf. Die Maßlosigkeit! Das ist in gewisser Weise atemberaubend für einen Menschen, der in seinem geistigen Schaffen maßlos sein würde: maßlos viel Denken, maßlos viel schreiben, in eine maßlose und unermessliche Einsamkeit sich hineinbegeben… aus der er selbst als Toter nicht erlöst sein würde.
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