Donnerstag, 14. Mai 2009

The New World

Von Manuel Karasek
Vor einigen Wochen das zweite Mal "The New World" von Terrence Malick gesehen. Mutete fast wie der Begleitfilm zu Theweleits Theorie-Buch "Pocahontas in Wonderland" an. Die Geschichte, allen Nordamerikanern bekannt (weil sie eben Schulstoff ist); dagegen in Europa mancher - auch wenn er gut informiert ist - noch fragen muss, worum es da eigentlich geht. Einfache Story: 1607 landen ein paar englische Schiffe mit einem Haufen Abenteurer an der Küste, die man später zu Amerika, beziehungsweise zum Bundesstaat Virginia zählen wird. Im Mittelpunkt die bittersüße Liebesgeschichte zwischen einem romantischen Haudegen britischer Färbung - John Smith - und einem Indianermädchen (Pocahontas). Wissen sollte man: Der schöne Indianerfrischling ist die Tochter des Häuplings Powhatan. Und: Pocahontas rettet dem verwegenen Krieger John Smith das Leben (er, von den Medizinmännern zur Hinrichtung bestimmt; sie wirft sich zwischen ihm und den Henkern, bittet um Schonung).
Der Film hat eine bemerkenswerte Mischung gegensätzlicher Motive: Einerseits gibt es die universelle, hollywoodmäßige (also konsensfähige) Bildersprache, die auch der Liebesgeschichte entgegenkommt. Andererseits bedient sich Malick zweier nonverbaler Elemente für sein 'Drama', von denen das eine ein Element des Autorenkinos der Siebziger ist. Element eins: Mehrmals setzt er das Adagio des A-Dur Klavierkonzertes von Mozart (KV 488, Concerto No. 23) ein. Element zwei: Die Gestensprache Pocahontas und die pantomimischen Fähigkeiten der Natives.
Zur Musik: Eine Bildersequenz, die zeigt, wie der gefangene John Smith das Leben der Indianer kennen lernt. Man sieht die Kinder der Eingeborenen unbeschwert spielen. Man sieht, wie John Smith (gespielt von Colin Farrell) sich mit den jungen Indianerkriegern anfreundet. Man sieht, wie er und Pocahontas sich gegenseitig einzelne Wörter in ihrer jeweiligen Sprache mitteilen - wie sie die Begriffe lernen und übersetzen (Himmel, Augen, Ohren, Mund). Einmal kommt eine Stimme aus dem Off, die Gedanken Smiths zum tribalen Dasein: Niemand ist ein Heuchler, heißt es, niemand ein Lügner. Niemand stiehlt, niemand ist geizig. Die Ureinwohner Amerikas sind freundlich, aufgeschlossen, neugierig, gütig.
Das ist natürlich ein alter Text, beziehungsweise eine Variation zu Montaignes berühmtem Essay "Über die Kannibalen". In der Rede Smiths steckt schließlich der alte Entwurf einer Gegengesellschaft, die den Handel, ergo: den Kapitalismus und seine Folgen - das impliziert natürlich den Krieg - negiert. Aber auch die Unübersichtlichkeit politischer wie sozialer Prozesse, die oftmals eine ungeheure Abstraktionsenergie vom Einzelnen fordern, ist im Dorf der Indianer auf das Idealmaß einer Übersichtlichkeit geschrumpft. Die Komplexität moderner Gesellschaften mit ihrem Hang zu Gewaltmonopolen und sich widersprechenden Gerechtigkeitsansprüchen weicht einem sozialistisch-utopischen Modell einer Tauschgesellschaft, die vom Individuum gerade so viel verlangt, wie die Gemeinschaft zum bescheidenen Komfort braucht (Der Entwurf einer solchen Gesellschaft findet sich allerdings auch in den Briefen des Paulus wieder).
Malick setzt eine Musik ein, die etwa 1786 uraufgeführt wurde. Dieses Adagio ist eine der Vorstellungen des Komponisten von einer absoluten Musik (Die Melancholie geht auf in die Glückseligkeit der Tonfolgen, das Glück selbst ist unterschwellig melancholisch - so der Verzahnungsprozess. Die Musik teilt dies selbstverständlich nicht mit, weil sie sich immer im Abstrakten des Materials aufhält. Die Materie, die erklingt, hat, weil die Komposition von Mozart als naturgegeben erfahren wird, die unmittelbare Nähe zu einer nonverbalen Wahrheit. Sie ist Natur, Wahrheit, Universum - scheint sie mitzuteilen. Anders: Sie setzt den Verdacht frei, dass sie mehr begreift als unsere Begrifflichkeit zur Welt auszudrücken vermag).
Das Dorf der Algonkins - so der Name des Stamms - ist die Verbildlichung einer alten Vorstellung vom absolut idealen Leben aus dem Geiste des ersten Buchs der Bibel: Die Möglichkeit einer Errichtung des Garten Edens; auch nachdem der erste Intellektuelle der Geistesgeschichte - die Schlange - die Gabe der Frucht des einen Baumes den Menschen verraten hat: Die Erkenntnis.
Das letzte Bild der Sequenz zeigt eine Frau, wie sie zu einem wilden Beat tanzt. Man hört aber weiterhin die erhabene, langsame, beatlose Musik Mozarts. Eigentlich müssten beide Elemente sich jetzt beißen, albern wirken. Doch es ist in Bildsprache umgewandelte Ergriffenheit. Wahrscheinlich der schönste Bildmoment des ganzen Films, weil er die Entrücktheit im Blick des so eben geretteten Smiths eindrucksvoll festhält. Das Leben als das Paradies selbst. Die Wortlosigkeit als Implosion der überwältigenden Gefühle des kostbaren Augenblicks.
Das Mittel "klassische Musik des Rokoko" als gegensätzliches Motiv zum Bildkontext ist überdies Verweis auf die angloamerikanische Filmautorensprache der 70er. Siehe Kubricks "Barry Lyndon" und der Einsatz der Musik von Schubert (Dieses A-Dur Konzert von Mozart ist übrigens das einzige Klavierkonzert, welches Vladimir Horowitz je eingespielt hat).
Element B ist Pocahontas Gestensprache und die Pantomimik ihrer Stammesbrüder - verstärkt durch die Gesichtsbemalung. Sie steht im Gegensatz zu der Sprache der Konquistadoren. Diese ist selbstverständlich Ausdruck einer Handelsgesellschaft und begegnet dem nonverbalen, scheinbar selbstlosen Ausdrucksreichtum der Natives mit Verwirrung, Stummheit, Bewegungslosigkeit, Starrheit in den Gesichtszügen. Die Gesichtsbemalung sowie die Gesten der Algonkins verweisen auf eine Körperlichkeit, die den Gesetzen einer Tauschgesellschaft gehorcht. Das Gesetz, dass alle Natives beherrscht, besteht aus einem gleichgewichteten, aller Wahrscheinlichkeit kompliziert austarierten System gegenseitiger Respektbekundigungen. Da die Gemeinde überschaubar ist, baut sie Beziehungsmuster auf, die körperliche Nähe und mimische Eindeutigkeit produziert. Die Europäer bedienen sich dagegen eines Ersatzkörpers aus Eisen. Der ist nicht allein Ausdruck ihrer Aggresionsbereitschaft oder ihres technischen Vorsprungs, sondern auch eines Verinnerlichungsprozesses ausdifferenzierter Selbstschutzmechanismen. Schließlich befinden sich alle europäischen Gesellschaften der Renaissance in einem hart geführten Wettbewerb, den sie in die neue Welt transportieren - und dessen Eigengesetzlichkeit eine doppelte Irritation schafft: Die Algonkins können die sozialpolitische Entwicklung, in der die Eindringlinge stecken, überhaupt nicht verstehen. Und die Engländer machen die Erfahrung, dass der neu gewonnene Raum und die mitgeschleppten Konditionen das eigene Koordinatensystem durcheinanderbringen.
Pocahontas Gestenreichtum (wundervoll gespielt von der jungen Q'Orianka Kilcher) hat vom Charakter her etwas von einer Apotheose: Die untergegangene, von den Europäern vernichtete Kultur; die über filmische Mittel wiedererweckten sprachlichen Mittel der amerikanischen Ureinwohner. Und dabei - auch unabhängig vom Gestenzusammenhang - bedient sich Malick mehrmals des Vorspiels von Richard Wagners "Rheingold". Auch das eine Entsprechung im Geiste der Ambivalenz. Die Gesten sind unbestimmt wie gleichzeitig bestimmt: Sie deuten stets auf die Größendimensionen Sonne, Wasser, Erde, Leben hin. Die Anspielung dabei ist unübersehbar und verweist auf den Zusammenhang: der einzelne Mensch als Teil des scheinbar unbegreiflich Ganzen. Das Leben fließt, das Dasein ist Fluss. Und die Wellenbewegung der Musik Wagners untermalt diese Einsicht aus dem Ursprünglichen. Dass dieser ganze Komplex nicht zum Kitsch wird, ist der Darstellung der enormen Widersprüchlichkeit, die die Begegnung zwischen beiden Kulturen erzeugt, zuzuschreiben. Mehrmals sagt Smith zu Pocahontas: Vertrau mir nicht.
Die Lovestory aus sehr alter Zeit endet zunächst traurig. Smith lauscht seiner inneren Abenteuerstimme und segelt im Auftrag der britischen Krone fortan immer an der Nordostpassage vorbei, die direkt nach Indien und Japan führen soll. Pocahontas heiratet den ehrbaren Farmer John Rolfe und lässt sich christianisieren (nun heißt sie Rebecca). In London wird die Indianerprinzessin dafür von King James I. aufs königlichste empfangen, fängt sich wenig später irgendeinen bösen Virus ein und stirbt.
Aber der Ausspruch Smiths hat auch eine andere Bedeutungsebene als die persönliche Zurückweisung: Die Europäer vertrauen eher der dauernd sich erneuernden Doppelbödigkeit, die aus dem gegensätzlichen Spiel aus Eigeninteressen und den Strategien der absolutistisch-feudal geprägten Mehrheit entsteht denn den in paradiesischen Naturzuständen sich entwickelnden Zweisamkeitsgefühlen. Pocahontas - der Zuschauer von heute bleibt eigentlich immer eine Art John Smith, weswegen Pocahontas Innenwelt mehr spekulativ sein muss - .... Pocahontas vertraut auf die Möglichkeit, das Ganze (das Dasein, die Liebe, ihren Stamm, die fremden Eindringlinge) als tatsächlich ganz zu begreifen. Ergo: Es gibt das tribale, über Traditionen vermittelte Bild von der Welt, aber es gibt eben auch das komplett andere Weltbild der Fremden. Beides fließt am Ende des Film in ihr zusammen. Da sieht man die radschlagende Pocahontas in einem englischen Garten - es ist später Herbst, das schöne Vorspiel Wagners schwillt an. Gerade solche Szenen bergen die Gefahr, dass die Figur als unbedacht proamerikanische und politisch korrekt gezeichnete Figur verstanden werden könnte, die das harmonische Zusammenfließen mehrerer Kulturen demonstriert. Das ist aber nicht gemeint. Aus der Perspektive Terrence Malicks ist Pocahontas selbst das Bild das Lebens, das sprachlose, fast verlorene Idiom für eine Grundempfindung, die das Dasein als Reise begreift - und die unaufhebbare Widersprüchlichkeit, die die Darstellung der Konfrontation der Kulturen die ganze Zeit prägt, auch über die First-Touch-Begegnung hinaus für elementar hält. Gerade darin lässt sich das Amerikbild Malicks ausmachen, eine eher distanzierte, kritische Perspektive, die sich allerdings sehr warm anfühlt.

Freitag, 10. April 2009

Webers Protokoll

Von Manuel Karasek
Nach circa 160 Seiten Nora Bossongs Roman "Webers Protokoll" aufgegeben - nachdem man sich mit mehreren 'Lesarten' dem Text versucht hatte anzunähern. Es ging mir während der überflüssig anstrengenden Lektüre durchaus auf, dass Bossong ihr Material gut recherchiert wie gestaltet hatte, doch die komplexe Geschichte eines deutschen Diplomaten, der die Nazis für ordinär hält und in der Nachkriegszeit um seine Wiedereinsetzung in den Staatsdienst kämpft, verlangt etwas mehr als handwerkliche Geschicklichkeit. Ohnehin erinnert "Webers Protokoll" mit seiner Überbeanspruchung literarischer Techniken - die forcierte Mehrebenigkeit der Handlung, die verschachtelte Syntax, die zeitweilig redundante Sprache, welche dann hauptsächlich nur um das gestörte Wahrnehmungssystem ihres Protagonisten kreist (ergo: Webers Verwirrtheit angesichts der brutalen Wirren seiner Zeit thematisiert) - an einen ehrgeizigen Abituraufatz. Natürlich mutet ein solches Urteil herablassend an. Aber der Zuspruch der Kritikerin der FAZ ist - wenn man um Zurückhaltung im Ausdruck bemüht ist - wenig verständlich: Die Schwächen des Romans sind ja unübersehbar. Allerdings ist Nora Bosong jung (Jahrgang 82) - und Talent, das beweisen einige Passagen im Buch, hat sie.

Freitag, 6. März 2009

Blut und Sprüche

In George Batailles Buch über Nietzsche, das gegen Ende des Krieges erscheint, wird gleich zu Beginn der schöne Satz zitiert: "Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden." Das ist - zunächst unvorsichtig formuliert - eine Gänsehaut erzeugende, affektgeladene Sentenz, ja eine heftig ausladende Sprachgeste, die wie ein aus dem Kontext gerissener Merksatz aus einem Bekennerschreiben anmutet. Wer solch einem Satz das erste Mal begegnet, lässt sich von seiner Dynamik mitreißen - und spürt zugleich, wie man im Innern danach trachtet, ihn durch Verschweigen zu schützen. Der Satz, der so herrisch auftritt, scheint aus Porzellan zu bestehen. In ihm (wie auch im übrigen nietzeanischen Werk) vibrieren die Aufladungen und Ströme des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und so begreift man den Satz auch. Seine Schönheit ist mit ein Resultat aus dem historisch-kritischen Bewusstsein. Der Satz ist Ausdruck gegenüber der Entwicklung der kapitalistischen europäischen Staaten, die sich immer stärker als Großsysteme begreifen, im Innern wie nach außen hin. Der sprachliche Ausdruck steht im Verhältnis zur Konfrontation unterschiedlicher Systemvorstellungen innerhalb der Gemeinschaft. Nietzsche ist dabei fast immer im Selbstbegreifen das Gegensystem, beinahe eine Ein-Mann-Diaspora. Die Gründe für die Unwiederholbarkeit des nietzeanischen Anspruchs findet man unter anderem dann darin, dass seine Sprache dauernd zu einer Feierlich- und Festlichkeit neigt, die bei ungefiltertem Gebrauch heute absolut albern wirken würde. Außerdem äußert sich beispielsweise heutiger diskursiver Widerstand gegen manche Formen von Herrschaft nicht in Postulaten, die den Ab- oder Umbau von Systemen einklagen, sondern dieser richtet sich eher in Enklaven ein - 'Alte' Medien wie Zeitungen und die 'neuen' wie Blogs im Netz sind ja Ausdruck dieser Enklavenkultur.

Donnerstag, 5. März 2009

Bodhidharma

Die große Angst im Abendland vor dem Nichtstun, wobei es ein solches gar nicht geben kann. Auch Nichtstun ist ein Etwastun. Bodhidharma (440-528 n. Chr.), der jahrelang nur eine weiße Wand anschaute – und zum Weisen wurde. Die Furcht des abendländischen Menschen vor den Techniken einer meditativen Versenkung, wie sie der Zen-Buddhismus praktiziert. Wir können nicht in irgendeine Lücke eingeparkt werden und auf den Besitzer warten, dass er unseren Motor wieder startet. Wir sind stets mit etwas beschäftigt: Die Arbeit in der Küche, der Haushalt – ja, alle Formen von sexueller Betätigung und Sport haben sich Anteile des Zen angeeignet – und diese gehen in einer materiellen Sphäre auf. Sie beruhigen jedoch kaum die innere Hysterie. Auch Schreiben führt nicht zu Weisheit. Kein Schriftsteller der Welt erreicht die Ziele des Zens mit seinem Schreiben. So skandalös das auch im Zusammenhang mit einer geistigen Arbeit erscheinen mag, Papier, Tinte, Computer sind materienbehaftet. Ja, und diese ganzen Gurus wie Coelho (früher gab es da…. – richtig! - Erich Fromm), die Trost- und Weisheitsliteratur verzapfen, sind wie ihre Leser auf der Suche nach einem verwässerten Zen-Buddhismus.

Kafka

Die große Selbstgewissheit Kafkas beim Schreiben, das unbedingte Begehren dabei, gepaart mit der stilistischen Sicherheit, seinem guten Geschmack, dem feinen künstlerischen Gespür, seiner wachen Intelligenz, seiner schönen Feinfühligkeit (und Aufrichtigkeit!), erscheint, wenn man Kafkas Schreiben mit dem Prozess der schöpferischen Arbeit anderer zeitgenössischer Schriftsteller vergleicht (und ihre Gaben und Ausführungen im Lichte seiner Literatur betrachtet), tatsächlich atemberaubend einzigartig. Wie er sich in dieses Schreiben hineinstürzte, ist deshalb so bemerkenswert, weil er die Affekte, die vor und während des Verfassens entstanden, in das Textgerüst so natürlich integrierte, dass sie einen ganz speziellen Charakter von Reinheit erhielten, der bis heute so viele bezaubert.
Die mühevolle Bastelarbeit an der Form, das Ringen um den „wahren“ Ton, das Bemühen um emotionale wie intellektuelle Aufladung im Satz: All das kann man auch als leise Unsicherheit werten, die Thomas Mann, Hofmannsthal oder Rilke von Zeit zu Zeit befielen. Dabei zweifelt man ihr fraglos großes Können gar nicht an, aber das gelegentliche Erschlaffen des Schreibbegehrens verursachte auch eine Anstrengung, hinter der ein Gelangweilsein lauerte (Andre Gides Tagebuch krankt etwa um die Jahre 1903,1904 und 1905 an dem Konzept der Erlebnisaufzeichnung, was dem Verfasser spürbar Mühe bereitet; sein Interesse, einen Teil der Realität ‚abzuschreiben’, ist eigentlich erloschen). Das Ausleben narzisstischer Züge (im Text und im Leben) kompensierte schließlich diese Unsicherheit.

Roland Barthes

Ich lese jeden Tag so um die zwei Stunden Roland Barthes „Die Vorbereitung des Romans“. Während ich auf der Müllerstraße spazieren gehe, lese ich – und kann nicht aufhören. Ich stehe an der Supermarktkasse, ich lese Roland Barthes. Gestern erzählte mir eine Freundin, sie sei in den letzten Wochen in London, Paris und New York gewesen. „Das gibt mir nichts.“, antwortete ich. „Ich lese Roland Barthes.“

Terminator

Etwa vor einer Woche gesehen: Terminator zwei, Tag der Abrechnung. Wahrscheinlich das fünfte Mal gesehen. Drei Grundelemente der Filmsprache fielen mir auf.
1. Die Gesichter der Schauspieler drücken sehr starke (eigentlich immer übertrieben starke) Emotionen aus. Dieses Element hat sich seit den Zeiten des Stummfilms überhaupt nicht gewandelt. In den Gesichtern steckt stets die ganze affektive Energie der Bildersprache. Erst die Mimik reißt den passiven Zuschauer in ein ungeheuerliches Beteiligsein. Die besondere Dialektik beim Terminator-Film ist, dass die von Schwarzenegger gespielte Maschine (Frankenstein-Motiv, Rückgriff auf die Romantik) kaum Mienenspiel aufweist. Das Gesicht ist unbeweglich, indolent. Steht im Kontrast zu den Gesichtern der Menschen, die stets am Rande einer Hysterie sich befinden. Das „menschliche“ Gesicht der Maschine fängt die grellen und schrillen Affekte der ihm fremden menschlichen Wesen auf (Fremd, weil er nie begreift, wie Emotionen entstehen. Die Affekte sind aber nicht nur für die Maschine der eigentliche Skandal im Leben). Hinter dieser Dialektik lauert das kollektive Wunsch-Bild einer automatisierten, aber dafür funktionierenden, väterlichen Autorität. Das Versagen der amerikanischen Präsidenten ist das Versagen der Überväter.
2. Die Gestensprache. Kodiert. Manchmal automatisiert. Beispiel: Der Junge macht einmal das Zeichen der NBA-Schiedsrichter und ruft „OK, Auszeit“. Um 1920 herum wäre eine solche Geste nicht möglich gewesen. So wie manche Gesten heute (vor allem im Zusammenhang mit romantischen Szenen) aus der Stummfilmzeit (weil der Diskurs um Sexualität im Film noch nicht geführt wurde) völlig fremd, ja unfreiwillig komisch und grotesk anmuten.
3. Der Film operiert dauernd mit dem Bildausschnitt. Das heißt, dass dieser suggeriert, dass außerhalb seines Radius das Eigentliche, das Entscheidende passiert. Und dass es bald geschieht (Immer gibt es den kurzen spekulativen Sprung in eine Zukunft, der dann aber gleich von der Gegenwart eingeholt wird).
Dazu zwei Überlegungen.
A: Terminator gilt nicht als Kunst. Der Film ist Mainstream, er ist Hollywood, er dient also der Zerstreuung. Feststellung: Mit einem traditionellen Kunstbegriffverständnis kommt man nicht sehr weit. Offensichtlich braucht man hier eine Poptheorie, die umreißen kann, wie der Film sich (oftmals unbewusst) Anleihen aus der Tradierung von Drama und Tragödie erlaubt – sie verwandelt. Oder sogar unfreiwillig daran erinnert, wie es einmal war, 1678 in einem Versailler Theater zu sitzen und von einer Tragödie von Racine ergriffen zu werden (Die Tragödie der Maschine, die begreift, dass sie nie ganz Mensch sein kann - und sich dann selbst zerstört. Schöner, anrührender Augenblick im Terminator-Film. Die hemmungslose Trauer des Jungen, der – ja, was? – den Kameraden, den Vater, das andere oder seine eigene Schöpfung? verliert).
B: Der Film, so der französische Philosoph Bergson vor hundert Jahren, weist auffällige Ähnlichkeit mit der Struktur unseres Denkens auf. Jede Bewegung speist sich aus unzähligen Standbildern. Ergo aus Bewegungslosigkeit, Stillstand puzzelt das Auge (das sehende Denken) die sich bewegende Wirklichkeit zusammen. Das bedeutet wiederum: Jeder Denkvorgang setzt einzelne intellektuelle und sinnliche Eindrücke zusammen. Der Film, so Bergson, kopiert diesen Vorgang. Hinzufügung: Deswegen entsteht auch oft die emotionale Nähe beim Schauen. Einen kleinen Augenblick können wir nicht mehr sehen, dass das Dargebotene Fiktion, Inszenierung ist. Wir halten es für ein Abbild der Realität. Beziehungsweise vergessen wir, dass wir in einem „Theater“ gewesen sind.
C: Beide Terminator-Filme (ja, ich weiß, es gibt einen dritten, aber den beziehe ich jetzt nicht mit ein) enden in einer Fabrik. Unbewusst (oder mehr: unfreiwillig) ein metaphorischer Verweis auf Shelleys Frankenstein, der während der heißen Industrialisierungsphase (um 1820 herum) entstand. Die Menschmaschine kehrt an den Ort ihrer Herstellung (Geburt) zurück, beziehungsweise an einen Ort, der auf die Fabrikation von mechanischen Geräten spezialisiert ist. Durch diese Rückkehr entsteht eine dramatische Überspitzung, die wiederum die symbolische Überhöhung mit einbezieht.

Pop und Alltag

Es ist schon erstaunlich, wie simpel (und gleichzeitig komplex) Alltagsdenken funktioniert. Beim Aufwachen rechnet ein phantasierendes Hirn durch, was bleiben würde bei einem Lottogewinn von… usw. Beim Einkauf beschäftigen mich ähnliche Rechenoperationen entlang eines Wunschhorizontes. All das ist deswegen so erstaunlich, weil sich in der globalisierten Pop-Kultur, zu der unweigerlich jeder gehört, alles um einen hybriden Maßstab dreht. Erfolg wird als solcher erst gewertet, wenn die Quoten relevante Zahlen aufzeigen. Aber offenbar geht das intellektuelle Denken noch von der Voraussetzung einer Kulturproduktion um das Jahr 1910 aus. Schon viertausend Leser erschienen André Gide zu viel.

Samstag, 14. Februar 2009

Im Gedächtnis des verwirrten Industriehuhns

Von Zeit zu Zeit, vor allem beim Kochen (oder wenn man an einem Imbissstand vorbeigeht), die Überlegung, was ein Huhn als Lebewesen und Produkt dem Betreiber eigentlich kostet. In der Supermarkttiefkühlbox liegt verpacktes Hühnerfleisch in mehreren Formen zu zwei bis zweifünfzig aus, was bedeutet, dass die Zucht eines Tieres bis zu unter einem Euro fällt. In großen Werkhallen ist diesen Wesen ein irdisches Wandeln von gerade mal zwei Wochen gestattet, bevor sie sich in Filet oder Cordon bleu transformieren. Eine Maschine brütet sie aus, wirft die Küken in die Massentierhaltungshalle, wo sie zwei Wochen im Kollektiv fressen und wachsen, bevor eine andere Maschine sie einsammelt und enthauptet. Sie sind Lebewesen, die nach menschlichem Ermessen eigentlich ein Verhältnis zu einer Mutter haben müssten. Da sie aber im Verhältnis zur Maschine aufwachsen, die gleichermaßen indifferent Leben und Tod produziert, muss ihre Beziehung zum Dasein hauptsächlich aus Verwirrung bestehen. Geflügel - egal ob Pute, Ente oder Huhn – ist deshalb auch ein extrem neurotisches Lebensmittel. Selbst wenn ‚Chicken’ als ‚Wings’ oder ‚Nuggets’ daherkommt, hält es die Fiktion eines Lebensstandards aufrecht, den man fälschlicherweise für hoch hält. (geschrieben im Sommer 2007 - inzwischen sind die Preise für Chicken gestiegen)

Sonntag, 8. Februar 2009

Nietzsche und der Chor

Nietzsche schreibt über Schlegels Auffassung vom Chor in der Tragödie, dass das „Idealische“ - die Annahme, der Chor sei Spiegelbild der Zuschauer – zu kurz gedacht sei. Er setzt fort, dass die Interpretation Schillers mehr Stimmigkeit aufweise, der gesagt hat, der Chor sei wie eine Mauer, eine Art extra künstliches Element, um den Zuschauer sofort begreiflich zu machen, dass die Tragödie keine Abbildung der Realität sei. Der Chor sei aus den Mythen behandelnden ersten Stücken vor der großen Zeit der attischen Tragödien entstanden, um den Zusammenhang des Satyrspieles zu wahren: Wenngleich die Götterwelt Spiegel der menschlichen Handlungen war, so blieb sie stets immer Fiktion, Erfindung, Spiel. Es ist kurios, aber mir fällt dabei Helmut Kraussers Wort von dem „Fortschritt“ ein, den die Kunst eben auch gemacht hat. Jeweils die Künstler und das Publikum haben in den vielen Jahrhunderten gelernt, wie Glaubwürdigkeit innerhalb eines fiktionalen Moments entsteht. Die Athener vor den großen Perserschlachten hatten keine derartig sozialkulturelle Entwicklung durchgemacht, die dann auf die Kunstproduktion entsprechend einwirkte. Ich kann mir denken, dass das heutige Befremden gegenüber dem Chor – dass er existiert, dass er eine tragende Rolle im Stück spielt – ein Resultat dieses „Fortschrittes“ ist. Es ist zwar blasphemisch, aber eigentlich richtig: Kann man sich beim „Terminator“ etwa einen Chor vorstellen – oder bei Harry Potter. Schon in den Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts ist ein Chor eine aberwitzige und abstruse Vorstellung. Ich denke auch, dass der Chor entstanden ist aus dem Umstand, dass die Demen – die Bezirksverwaltungen, beziehungsweise Männerbünde in den einzelnen Bezirken – Wettkämpfe im Chorgesang organisiert hatten. So ist weiter vorstellbar, dass der Chor in den Stücken mit Musik vorgetragen wurde, dass also die attischen Tragödien halbe Opern gewesen waren. Denn in der Oper ist der Chor ja noch unentbehrlich. Was Nietzsche bisher nicht anspricht, ist das, was Christian Meier in seinem Athen-Buch so großartig beschreibend gelungen ist. Die attische Tragödie ist auch deswegen entstanden, weil es Athen gleich dreimal gelungen war, die persische Übermacht zu schlagen. Athen sah sich innerhalb von zehn Jahren plötzlich zu einer regionalen Übermacht aufsteigen, was alles veränderte. Und die Probleme waren auch plötzlich andere für die Stadt. Aischylos Stücke reagierten ja auf die veränderte politisch-soziale Sachlage der Stadt.


Aufregend auch die Darstellung Nietzsches vom Entstehen des Chors aus dem Geiste des Satyrspieles. Es gab ja als solches um circa 550 v. Chr. keine Bühne in unserem Verständnis. Es gab keine Bühnentradition. Damit aber überhaupt die Vorstellung von Bühne entstehen konnte, bedurfte es des Satyrchores. Gemeinsames Singen und Tanzen hieß nicht: Hier findet eine Darstellung auf einer Fläche statt, die dann Bühne später genannt wird. Die Fläche war die Vision des Chores. Die Vision verwandelte die Fläche in eine Bühne. Die Vision schaute in das Angesicht des Gottes Dionysos. Der Rausch und die Entzückung waren noch an die Religion gebunden.

Samstag, 7. Februar 2009

Nietzsche: Geburt der Tragödie

Was man bei der „Geburt der Tragödie“ merkt, ist der Jugendstilcharakter, der durch den Ton und Stil des Verfassers dringt. Das Erstaunliche ist, dass Nietzsche seine Schrift kurz nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 verfasste, aber der Erfolg seiner Schriften und Gedanken erst nach seiner endgültigen Demenz 1889 einsetzte. Diese ganze Wandervogelgeschichte, der materlincksche Einschlag, das nahezu ungebremste Pathos in einer Strömung der deutschen Literatur von 1890 bis 1914, das Betonen des Schwärmerischen als Naturzustand des Jugendlichen: Das alles ist in dem Ton der „Geburt“ und auch im „Zarathustra“ vorweggenommen.
Und die Bilder, die er entwirft - der in den Himmelslüften tanzende Mensch, diese ganze Elevationsmetaphorik: Sie ist eine Vorwegnahme einer Jugendkultur, die mir heute grausig vorkommt. Nur zur damaligen Zeit war sie eine wortwörtliche Erhebung gegen die elterliche Ordnung gewesen. In Nietzsches Texten aus der späten Schaffensperiode – zum Beispiel im Vorwort der „Geburt“ – erscheint der Spuk seines elterlichen Christenpastorhauses, gegen das er ankämpfen musste. Das BÖSE und FALSCHE war wohl die frauenüberschüssige Familie gewesen, die den früh verstorbenen Vater eigentlich vor den Augen des Sohnes symbolisch noch mal begraben hatte. Man merkt in Nietzsches Ton, in seiner Wortwahl jene Neurose gegenüber einer Frauenübermacht an. Darum auch besingt er so schön und unschön zugleich die künftigen „Drachentöter“ – und meint damit die künftige, von aller elterlich-autoritären Ordnungslast befreite Generation.
Das Lesen dieses Buches erschreckt zu Beginn, weil es in sich ein Gran abgestandener Gelehrtheit enthält: Es ist ja auch so oft durchgenommen worden, dieses Buch des „Rätselfreundes“. Auch in „Phonon“, also bei Dath – sowie bei Goetz – steckt eben das Nietzscheanische, das Verkündende, das Heil in der Zukunft, das in der Möglichkeit des „Jetzt“ und „Heute“ als Sozialding-Erwünschenswertes formuliert wird. Daths Roman „Phonon“ beispielsweise berauscht durchaus den Leser, erneuert die Hirnwindungsstrukturen. Es gibt darin manchmal dieses komische schwer fassbare Zwischen-den-Zeilen, das als leiser Ton daher kommt: Das Buch scheint zu flüstern: Sieh mich an!


Was so entscheidend für einen heutigen Leser bei der „Geburt“ anmutet, ist der Umstand, dass Nietzsche zwar mit der Beschreibung der apollinischen Kunst auf den „naiven“ Homer verweist, dass aber in einem zeitübergreifenden Akt des Textüberlebens damit die heutige Kulturproduktion mit ihrer Generierung der Fantasy-Welten erfasst wird.

Umfassend auch der Gedanke vom eigentlichen Werden des Menschen innerhalb eines Prozesses der Versunkenheit in ein ästhetisches Produkt, sein Involviert-Sein. Er empfindet eine fortlaufende Entwicklung seines Seins offenbar erst beim und durch das Hören und Sehen. Egal, welches Niveau ein Kunstprodukt aufbietet, sein Ur-Sein findet immer Erlösung im Alkohol der Künste.

Immer wieder spricht Nietzsche vom „Übermaass“ – immer wieder taucht dieser Begriff auf. Die Maßlosigkeit! Das ist in gewisser Weise atemberaubend für einen Menschen, der in seinem geistigen Schaffen maßlos sein würde: maßlos viel Denken, maßlos viel schreiben, in eine maßlose und unermessliche Einsamkeit sich hineinbegeben… aus der er selbst als Toter nicht erlöst sein würde.

Erpressung

Die dauerhafte Absicht, die eigene Fehlerhaftigkeit im Innenprozess zu beseitigen oder zu minimieren, muss – gerade weil das Vorhaben mit der Zeit hybrid, kokett oder bigott wird – scheitern. Die innere Logik der scheinbaren Selbstkritik mit den Ausstößen von konditionierten Schuldgefühlen unterliegt einem leeren Wiederholungszwang. Letztendlich gesteht man sich nach dem Erreichen eines bestimmten Punkts im Reifungsprozess nicht ein, mit dem überwältigend großen Teil des eigenen Ichs schon längst Bekanntschaft geschlossen zu haben. Das Gerede vom großen unbekannten Selbst ist einerseits eine Denkflucht, andererseits Rechtfertigung für grobes und asoziales Verhalten. Das Zur-Schau-stellen des eigenen Selbst im Kreis der Bekannten und Freunde (und in anderen Öffentlichkeiten) ist notwendige Schauspielerei im Dienste des sozialen Miteinanders. Aber die Darstellung im Dienste des Selbstschutzes, die auch gleichzeitig ständiger Beitrag zur sozialen Verästelung ist, ist schwierig durchzuhalten in einer Gesellschaft, welche sich stets durch ihre zwanghafte Bekenntniskultur in einem latenten Zustand der Erpressung befindet.

J.S.Bach

Unverkennbar bei Bachs Musik ist die Entwicklung zum Analytischen und Rationalen. Ein paar grundlegende Ideen, Formen und Gesten waren sein aus dem Unterbewusstsein gespeistes Startkapital gewesen. Von einem bestimmten Punkt an – so etwa um 1720 – muss er bemerkt haben, dass sich in ihm etwas Gott-Inspirationsfernes längst eingeschlichen hatte. Gottes dunkle Herrlichkeit, aus der heraus sein kraftvolles Werk entstand, musste ihn, ohne dass der Gedanke sein Glaubensfundament in Frage stellte, im Zusammenhang mit seiner Kunst nun nicht nur wie der authentische Klang einer göttlichen, inneren Stimme anmuten, sondern plötzlich wie eine Art Kompromiss erscheinen - gebunden an die äußerlichen, sozialen Bedingungen. Er wusste, dass er all das, was in ihm als produzierendes Element war, nur erhalten würde, würde er es immer wieder im Lichte musikrationaler Erkenntnisse spiegeln.
Wenn der Gemeinplatz vom Künstler, der ab einem bestimmten Zeitpunkt sich immer wiederholen muss, gedankenlos in den Raum geworfen wird, wird oftmals dieser schwer auf Begriffe zu bringende Prozess zum Rationalen hin vergessen. Ohnehin ist die reflexionsarme Anbetung bei Hörern klassischer Musik weit verbreitet, was zum Beispiel die unglaublich zahlreichen Einspielungen von Opern von Händel oder Konzerten von Vivaldi erklärt. Sogar über ihre Gräber hinaus überlebt ihre einst schlaue Geschäftemacherei mit der Popmusik des 18. Jahrhunderts. Heutige Stars wie beispielsweise Michael Jackson stürzen ab (und stürzen immer tiefer), weil sie immer wieder die im Verborgenen arbeitenden Energien hervorlocken wollen. Dabei haben sie das prometheische Feuer ja schon längst ans Licht gebracht – und ihr Zorn, ihre Trauer, der Jubel und die Hybris sind als Ursprungskräfte längst verraucht.

Peter Kurzeck

Noch so ein Wohlstands-Robert-Walser, der seinen Alltag abbildet. Dieses bewusst auf Regionalistische begrenzte, Plot ferne, nahezu vollkommen erkenntnisfreie Schreiben eröffnet für den Lesenden auf der leicht erschließbaren Metaebene ja auch die Perspektive, eines Tages sein Glück und seine Ruhe im Notieren zu finden – wogegen nichts oder ganz viel zu sagen ist. Vom Druck eines schwer von einer Scheidung angeschlagenen Mannes erzählt Kurzeck. Der Ich-Erzähler schreibt unlesbare Bücher, verdient entsprechend wenig mit seinen Publikationen, kommt bei Freunden unter, weswegen das Buch auch „Als Gast“ heißt. Auf ambivalente Art interessant ist diese Art Literatur, weil der beschreibende Denkvorgang, den man der aus Innen- wie Außen-Beobachtungen bestehenden Prosa entnehmen kann, letztendlich redundant ist – oder aus Reduktionen besteht. Tatsächlich ist das ein groß angelegter Privatkosmos, ein Ich-Herbarium.

Finanzkrise

Offenbar der Unterschied zu früheren Finanzkrisen ist, dass aufgrund des globalisierten Prozesses alle davon betroffen sind. Waren beispielsweise 2001 lediglich einige Teilnehmer in Mitleidenschaft gezogen, so hatten diese mit ihrem Kreditbegehren ausweichen können – und so die Löcher in ihren Haushaltskassen gestopft. Hält diese Krise an – und alles spricht aufgrund der schwierigen Energieversorgung dafür, könnten in wenigen Jahren die sozialen Sicherungssysteme hierzulande in die Lage geraten, die steigenden Lasten teilweise oder sogar größtenteils nicht mehr tragen zu können. Die Reformagenda 2010 hatte dafür gesorgt, das Ausgabensystem des Arbeitslosenapparates zu ‚verschlanken’ – und so die Zahl der Erwerbslosen von knapp 6 Millionen auf knapp 3 Millionen reduziert. Eigentlich ein Erfolg, der aber nur erzielt wurde, weil man strenge Kürzungen vornahm und gleichzeitig die unterschiedlichen Formen von Erwerbslosigkeit in ein beschönigendes Deutungssystem zusammenfasste. So sind noch mehr Leute ohne Arbeit als die Statistik wiedergibt, aber durch das Job Center sind sie in Maßnahmen untergebracht, in der sie Gemeinwohl nutzbringenden Tätigkeiten nachgehen. Letztere Formulierung ist zum Teil ein Euphemismus, zum Teil aber entspricht sie der Realität. Durch die Finanzkrise schaut man ein wenig sorgenvoll in die Zukunft – so wie der Passagier eines Schiffes, der an der Reling stehend beobachtet, wie man langsam auf den Eisberg zusteuert. Man weiß, dass der Kapitän und seine Mannschaft nichts unversucht lassen, die Kollision zu verhindern – aber es wird verdammt schwierig werden. Andererseits ist der Mensch, soweit er gesund und bei Sinnen ist, ein Wesen, das sehr geübt in Schiffbrüchigkeit ist.

Das Schriftsprachliche

Ein möglicher Grund für die Neigung vieler Schreiber, in zumindest melancholische Kurzphasen hineinzugeraten, hängt mit ihrer körperlichen Verfassung zusammen. Die Schwere des Körpers an sich - das dauernd spürbare Eigengewicht, wirkt wie ein Magnet, der die flugbereiten Gedanken am Boden des Somatischen fesselt. Erschwerend ist auch der Umstand, dass der Geist gewohnt ist, eine Sprechsprache vorzuformulieren. Wird dem Bewusstsein klar, dass es alles vorformuliert Sprechsprachliche ins Schriftsprachliche umwandeln muss, erlebt es einen zunächst lähmenden Konfrontationszustand. Damit ist das oft Elende aller Magisterschreibenden umrissen, die vor ihren PCs sitzen und versuchen, den Gedanken aus ihren Köpfen in die Worddateiwirklichkeit zu jagen. Einer meiner Lieblingssätze lautet: Schreiben ist ein Desaster. Natürlich muss dieser Satz - nüchtern betrachtet – falsch wirken. An sich ist Schreiben genau das Gegenteil. Nur habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass man gerne vom Schreiben träumt, das bald eintretende Erzählen und Philosophieren in aller Klarheit vor sich sieht, um es dann, sobald man am Schreibtisch sitzt, in Flüchtigkeit verlieren sieht. Roland Barthes pflegte seine lebenslange Sehnsucht, in einen nicht endend wollenden proustianischen Zustand zu geraten. Er strebte diesen immer an, verpasste ihn. Verpasste ihn sogar absichtlich. Vielleicht haben all diese Hemmkräfte gegenüber dem Schreiben auch etwas Gutes. Wie unüberlegt, uninspiriert, ungenau wirken doch die Texte mancher Schnellschussfeuilletonisten und gewisser Autoren.

Schrei und Jubel

Manchmal erweist es sich als nahezu segensreich, wenn beim Schreiben die nach Schreien und Jubeln sich verzehrenden Gefühle weit weg und tief unten in ihrem eigenen Innern verkapselt bleiben. Ich musste an den Zwanzigjährigen denken, der ich mal gewesen war, der gelegentlich den Fehler beging, zu meinen, sich vor der Einsamkeit zu fürchten, der jedoch eher das Arbeiten am Schreibtisch aus unterschiedlichen Befürchtungen heraus scheute. Tägliches Schreiben in thomasmannischer Stimmung, ohne gleich zu einem streberhaften Nachahmungsspießer zu werden, verursacht in der Selbstwahrnehmung eine Art von Ehrbarkeit, als würde man ständig an einer großen, nicht zu beendenden Fuge bauen. Inzwischen verursacht das Überbordgehen der Emotionen, das ich für unverzichtbar bei der Textherstellung hielt, Verdachtsmomente staatsanwaltischer Natur.

Andre Gide, Tagebücher

Die schönen Reisebeschreibungen bei André Gide (diesmal Andorra). Da heißt es z. B.: Licht rieselt wie Milch aus den Berggipfeln, Herbstlaub fällt wie Locken – oder: Ein Mann bestreut eine Tomate mit grauem Salz. Schön diese Erlesenheit!