Donnerstag, 14. Mai 2009

The New World

Von Manuel Karasek
Vor einigen Wochen das zweite Mal "The New World" von Terrence Malick gesehen. Mutete fast wie der Begleitfilm zu Theweleits Theorie-Buch "Pocahontas in Wonderland" an. Die Geschichte, allen Nordamerikanern bekannt (weil sie eben Schulstoff ist); dagegen in Europa mancher - auch wenn er gut informiert ist - noch fragen muss, worum es da eigentlich geht. Einfache Story: 1607 landen ein paar englische Schiffe mit einem Haufen Abenteurer an der Küste, die man später zu Amerika, beziehungsweise zum Bundesstaat Virginia zählen wird. Im Mittelpunkt die bittersüße Liebesgeschichte zwischen einem romantischen Haudegen britischer Färbung - John Smith - und einem Indianermädchen (Pocahontas). Wissen sollte man: Der schöne Indianerfrischling ist die Tochter des Häuplings Powhatan. Und: Pocahontas rettet dem verwegenen Krieger John Smith das Leben (er, von den Medizinmännern zur Hinrichtung bestimmt; sie wirft sich zwischen ihm und den Henkern, bittet um Schonung).
Der Film hat eine bemerkenswerte Mischung gegensätzlicher Motive: Einerseits gibt es die universelle, hollywoodmäßige (also konsensfähige) Bildersprache, die auch der Liebesgeschichte entgegenkommt. Andererseits bedient sich Malick zweier nonverbaler Elemente für sein 'Drama', von denen das eine ein Element des Autorenkinos der Siebziger ist. Element eins: Mehrmals setzt er das Adagio des A-Dur Klavierkonzertes von Mozart (KV 488, Concerto No. 23) ein. Element zwei: Die Gestensprache Pocahontas und die pantomimischen Fähigkeiten der Natives.
Zur Musik: Eine Bildersequenz, die zeigt, wie der gefangene John Smith das Leben der Indianer kennen lernt. Man sieht die Kinder der Eingeborenen unbeschwert spielen. Man sieht, wie John Smith (gespielt von Colin Farrell) sich mit den jungen Indianerkriegern anfreundet. Man sieht, wie er und Pocahontas sich gegenseitig einzelne Wörter in ihrer jeweiligen Sprache mitteilen - wie sie die Begriffe lernen und übersetzen (Himmel, Augen, Ohren, Mund). Einmal kommt eine Stimme aus dem Off, die Gedanken Smiths zum tribalen Dasein: Niemand ist ein Heuchler, heißt es, niemand ein Lügner. Niemand stiehlt, niemand ist geizig. Die Ureinwohner Amerikas sind freundlich, aufgeschlossen, neugierig, gütig.
Das ist natürlich ein alter Text, beziehungsweise eine Variation zu Montaignes berühmtem Essay "Über die Kannibalen". In der Rede Smiths steckt schließlich der alte Entwurf einer Gegengesellschaft, die den Handel, ergo: den Kapitalismus und seine Folgen - das impliziert natürlich den Krieg - negiert. Aber auch die Unübersichtlichkeit politischer wie sozialer Prozesse, die oftmals eine ungeheure Abstraktionsenergie vom Einzelnen fordern, ist im Dorf der Indianer auf das Idealmaß einer Übersichtlichkeit geschrumpft. Die Komplexität moderner Gesellschaften mit ihrem Hang zu Gewaltmonopolen und sich widersprechenden Gerechtigkeitsansprüchen weicht einem sozialistisch-utopischen Modell einer Tauschgesellschaft, die vom Individuum gerade so viel verlangt, wie die Gemeinschaft zum bescheidenen Komfort braucht (Der Entwurf einer solchen Gesellschaft findet sich allerdings auch in den Briefen des Paulus wieder).
Malick setzt eine Musik ein, die etwa 1786 uraufgeführt wurde. Dieses Adagio ist eine der Vorstellungen des Komponisten von einer absoluten Musik (Die Melancholie geht auf in die Glückseligkeit der Tonfolgen, das Glück selbst ist unterschwellig melancholisch - so der Verzahnungsprozess. Die Musik teilt dies selbstverständlich nicht mit, weil sie sich immer im Abstrakten des Materials aufhält. Die Materie, die erklingt, hat, weil die Komposition von Mozart als naturgegeben erfahren wird, die unmittelbare Nähe zu einer nonverbalen Wahrheit. Sie ist Natur, Wahrheit, Universum - scheint sie mitzuteilen. Anders: Sie setzt den Verdacht frei, dass sie mehr begreift als unsere Begrifflichkeit zur Welt auszudrücken vermag).
Das Dorf der Algonkins - so der Name des Stamms - ist die Verbildlichung einer alten Vorstellung vom absolut idealen Leben aus dem Geiste des ersten Buchs der Bibel: Die Möglichkeit einer Errichtung des Garten Edens; auch nachdem der erste Intellektuelle der Geistesgeschichte - die Schlange - die Gabe der Frucht des einen Baumes den Menschen verraten hat: Die Erkenntnis.
Das letzte Bild der Sequenz zeigt eine Frau, wie sie zu einem wilden Beat tanzt. Man hört aber weiterhin die erhabene, langsame, beatlose Musik Mozarts. Eigentlich müssten beide Elemente sich jetzt beißen, albern wirken. Doch es ist in Bildsprache umgewandelte Ergriffenheit. Wahrscheinlich der schönste Bildmoment des ganzen Films, weil er die Entrücktheit im Blick des so eben geretteten Smiths eindrucksvoll festhält. Das Leben als das Paradies selbst. Die Wortlosigkeit als Implosion der überwältigenden Gefühle des kostbaren Augenblicks.
Das Mittel "klassische Musik des Rokoko" als gegensätzliches Motiv zum Bildkontext ist überdies Verweis auf die angloamerikanische Filmautorensprache der 70er. Siehe Kubricks "Barry Lyndon" und der Einsatz der Musik von Schubert (Dieses A-Dur Konzert von Mozart ist übrigens das einzige Klavierkonzert, welches Vladimir Horowitz je eingespielt hat).
Element B ist Pocahontas Gestensprache und die Pantomimik ihrer Stammesbrüder - verstärkt durch die Gesichtsbemalung. Sie steht im Gegensatz zu der Sprache der Konquistadoren. Diese ist selbstverständlich Ausdruck einer Handelsgesellschaft und begegnet dem nonverbalen, scheinbar selbstlosen Ausdrucksreichtum der Natives mit Verwirrung, Stummheit, Bewegungslosigkeit, Starrheit in den Gesichtszügen. Die Gesichtsbemalung sowie die Gesten der Algonkins verweisen auf eine Körperlichkeit, die den Gesetzen einer Tauschgesellschaft gehorcht. Das Gesetz, dass alle Natives beherrscht, besteht aus einem gleichgewichteten, aller Wahrscheinlichkeit kompliziert austarierten System gegenseitiger Respektbekundigungen. Da die Gemeinde überschaubar ist, baut sie Beziehungsmuster auf, die körperliche Nähe und mimische Eindeutigkeit produziert. Die Europäer bedienen sich dagegen eines Ersatzkörpers aus Eisen. Der ist nicht allein Ausdruck ihrer Aggresionsbereitschaft oder ihres technischen Vorsprungs, sondern auch eines Verinnerlichungsprozesses ausdifferenzierter Selbstschutzmechanismen. Schließlich befinden sich alle europäischen Gesellschaften der Renaissance in einem hart geführten Wettbewerb, den sie in die neue Welt transportieren - und dessen Eigengesetzlichkeit eine doppelte Irritation schafft: Die Algonkins können die sozialpolitische Entwicklung, in der die Eindringlinge stecken, überhaupt nicht verstehen. Und die Engländer machen die Erfahrung, dass der neu gewonnene Raum und die mitgeschleppten Konditionen das eigene Koordinatensystem durcheinanderbringen.
Pocahontas Gestenreichtum (wundervoll gespielt von der jungen Q'Orianka Kilcher) hat vom Charakter her etwas von einer Apotheose: Die untergegangene, von den Europäern vernichtete Kultur; die über filmische Mittel wiedererweckten sprachlichen Mittel der amerikanischen Ureinwohner. Und dabei - auch unabhängig vom Gestenzusammenhang - bedient sich Malick mehrmals des Vorspiels von Richard Wagners "Rheingold". Auch das eine Entsprechung im Geiste der Ambivalenz. Die Gesten sind unbestimmt wie gleichzeitig bestimmt: Sie deuten stets auf die Größendimensionen Sonne, Wasser, Erde, Leben hin. Die Anspielung dabei ist unübersehbar und verweist auf den Zusammenhang: der einzelne Mensch als Teil des scheinbar unbegreiflich Ganzen. Das Leben fließt, das Dasein ist Fluss. Und die Wellenbewegung der Musik Wagners untermalt diese Einsicht aus dem Ursprünglichen. Dass dieser ganze Komplex nicht zum Kitsch wird, ist der Darstellung der enormen Widersprüchlichkeit, die die Begegnung zwischen beiden Kulturen erzeugt, zuzuschreiben. Mehrmals sagt Smith zu Pocahontas: Vertrau mir nicht.
Die Lovestory aus sehr alter Zeit endet zunächst traurig. Smith lauscht seiner inneren Abenteuerstimme und segelt im Auftrag der britischen Krone fortan immer an der Nordostpassage vorbei, die direkt nach Indien und Japan führen soll. Pocahontas heiratet den ehrbaren Farmer John Rolfe und lässt sich christianisieren (nun heißt sie Rebecca). In London wird die Indianerprinzessin dafür von King James I. aufs königlichste empfangen, fängt sich wenig später irgendeinen bösen Virus ein und stirbt.
Aber der Ausspruch Smiths hat auch eine andere Bedeutungsebene als die persönliche Zurückweisung: Die Europäer vertrauen eher der dauernd sich erneuernden Doppelbödigkeit, die aus dem gegensätzlichen Spiel aus Eigeninteressen und den Strategien der absolutistisch-feudal geprägten Mehrheit entsteht denn den in paradiesischen Naturzuständen sich entwickelnden Zweisamkeitsgefühlen. Pocahontas - der Zuschauer von heute bleibt eigentlich immer eine Art John Smith, weswegen Pocahontas Innenwelt mehr spekulativ sein muss - .... Pocahontas vertraut auf die Möglichkeit, das Ganze (das Dasein, die Liebe, ihren Stamm, die fremden Eindringlinge) als tatsächlich ganz zu begreifen. Ergo: Es gibt das tribale, über Traditionen vermittelte Bild von der Welt, aber es gibt eben auch das komplett andere Weltbild der Fremden. Beides fließt am Ende des Film in ihr zusammen. Da sieht man die radschlagende Pocahontas in einem englischen Garten - es ist später Herbst, das schöne Vorspiel Wagners schwillt an. Gerade solche Szenen bergen die Gefahr, dass die Figur als unbedacht proamerikanische und politisch korrekt gezeichnete Figur verstanden werden könnte, die das harmonische Zusammenfließen mehrerer Kulturen demonstriert. Das ist aber nicht gemeint. Aus der Perspektive Terrence Malicks ist Pocahontas selbst das Bild das Lebens, das sprachlose, fast verlorene Idiom für eine Grundempfindung, die das Dasein als Reise begreift - und die unaufhebbare Widersprüchlichkeit, die die Darstellung der Konfrontation der Kulturen die ganze Zeit prägt, auch über die First-Touch-Begegnung hinaus für elementar hält. Gerade darin lässt sich das Amerikbild Malicks ausmachen, eine eher distanzierte, kritische Perspektive, die sich allerdings sehr warm anfühlt.

Freitag, 10. April 2009

Webers Protokoll

Von Manuel Karasek
Nach circa 160 Seiten Nora Bossongs Roman "Webers Protokoll" aufgegeben - nachdem man sich mit mehreren 'Lesarten' dem Text versucht hatte anzunähern. Es ging mir während der überflüssig anstrengenden Lektüre durchaus auf, dass Bossong ihr Material gut recherchiert wie gestaltet hatte, doch die komplexe Geschichte eines deutschen Diplomaten, der die Nazis für ordinär hält und in der Nachkriegszeit um seine Wiedereinsetzung in den Staatsdienst kämpft, verlangt etwas mehr als handwerkliche Geschicklichkeit. Ohnehin erinnert "Webers Protokoll" mit seiner Überbeanspruchung literarischer Techniken - die forcierte Mehrebenigkeit der Handlung, die verschachtelte Syntax, die zeitweilig redundante Sprache, welche dann hauptsächlich nur um das gestörte Wahrnehmungssystem ihres Protagonisten kreist (ergo: Webers Verwirrtheit angesichts der brutalen Wirren seiner Zeit thematisiert) - an einen ehrgeizigen Abituraufatz. Natürlich mutet ein solches Urteil herablassend an. Aber der Zuspruch der Kritikerin der FAZ ist - wenn man um Zurückhaltung im Ausdruck bemüht ist - wenig verständlich: Die Schwächen des Romans sind ja unübersehbar. Allerdings ist Nora Bosong jung (Jahrgang 82) - und Talent, das beweisen einige Passagen im Buch, hat sie.

Freitag, 6. März 2009

Blut und Sprüche

In George Batailles Buch über Nietzsche, das gegen Ende des Krieges erscheint, wird gleich zu Beginn der schöne Satz zitiert: "Wer in Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden." Das ist - zunächst unvorsichtig formuliert - eine Gänsehaut erzeugende, affektgeladene Sentenz, ja eine heftig ausladende Sprachgeste, die wie ein aus dem Kontext gerissener Merksatz aus einem Bekennerschreiben anmutet. Wer solch einem Satz das erste Mal begegnet, lässt sich von seiner Dynamik mitreißen - und spürt zugleich, wie man im Innern danach trachtet, ihn durch Verschweigen zu schützen. Der Satz, der so herrisch auftritt, scheint aus Porzellan zu bestehen. In ihm (wie auch im übrigen nietzeanischen Werk) vibrieren die Aufladungen und Ströme des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und so begreift man den Satz auch. Seine Schönheit ist mit ein Resultat aus dem historisch-kritischen Bewusstsein. Der Satz ist Ausdruck gegenüber der Entwicklung der kapitalistischen europäischen Staaten, die sich immer stärker als Großsysteme begreifen, im Innern wie nach außen hin. Der sprachliche Ausdruck steht im Verhältnis zur Konfrontation unterschiedlicher Systemvorstellungen innerhalb der Gemeinschaft. Nietzsche ist dabei fast immer im Selbstbegreifen das Gegensystem, beinahe eine Ein-Mann-Diaspora. Die Gründe für die Unwiederholbarkeit des nietzeanischen Anspruchs findet man unter anderem dann darin, dass seine Sprache dauernd zu einer Feierlich- und Festlichkeit neigt, die bei ungefiltertem Gebrauch heute absolut albern wirken würde. Außerdem äußert sich beispielsweise heutiger diskursiver Widerstand gegen manche Formen von Herrschaft nicht in Postulaten, die den Ab- oder Umbau von Systemen einklagen, sondern dieser richtet sich eher in Enklaven ein - 'Alte' Medien wie Zeitungen und die 'neuen' wie Blogs im Netz sind ja Ausdruck dieser Enklavenkultur.

Donnerstag, 5. März 2009

Bodhidharma

Die große Angst im Abendland vor dem Nichtstun, wobei es ein solches gar nicht geben kann. Auch Nichtstun ist ein Etwastun. Bodhidharma (440-528 n. Chr.), der jahrelang nur eine weiße Wand anschaute – und zum Weisen wurde. Die Furcht des abendländischen Menschen vor den Techniken einer meditativen Versenkung, wie sie der Zen-Buddhismus praktiziert. Wir können nicht in irgendeine Lücke eingeparkt werden und auf den Besitzer warten, dass er unseren Motor wieder startet. Wir sind stets mit etwas beschäftigt: Die Arbeit in der Küche, der Haushalt – ja, alle Formen von sexueller Betätigung und Sport haben sich Anteile des Zen angeeignet – und diese gehen in einer materiellen Sphäre auf. Sie beruhigen jedoch kaum die innere Hysterie. Auch Schreiben führt nicht zu Weisheit. Kein Schriftsteller der Welt erreicht die Ziele des Zens mit seinem Schreiben. So skandalös das auch im Zusammenhang mit einer geistigen Arbeit erscheinen mag, Papier, Tinte, Computer sind materienbehaftet. Ja, und diese ganzen Gurus wie Coelho (früher gab es da…. – richtig! - Erich Fromm), die Trost- und Weisheitsliteratur verzapfen, sind wie ihre Leser auf der Suche nach einem verwässerten Zen-Buddhismus.

Kafka

Die große Selbstgewissheit Kafkas beim Schreiben, das unbedingte Begehren dabei, gepaart mit der stilistischen Sicherheit, seinem guten Geschmack, dem feinen künstlerischen Gespür, seiner wachen Intelligenz, seiner schönen Feinfühligkeit (und Aufrichtigkeit!), erscheint, wenn man Kafkas Schreiben mit dem Prozess der schöpferischen Arbeit anderer zeitgenössischer Schriftsteller vergleicht (und ihre Gaben und Ausführungen im Lichte seiner Literatur betrachtet), tatsächlich atemberaubend einzigartig. Wie er sich in dieses Schreiben hineinstürzte, ist deshalb so bemerkenswert, weil er die Affekte, die vor und während des Verfassens entstanden, in das Textgerüst so natürlich integrierte, dass sie einen ganz speziellen Charakter von Reinheit erhielten, der bis heute so viele bezaubert.
Die mühevolle Bastelarbeit an der Form, das Ringen um den „wahren“ Ton, das Bemühen um emotionale wie intellektuelle Aufladung im Satz: All das kann man auch als leise Unsicherheit werten, die Thomas Mann, Hofmannsthal oder Rilke von Zeit zu Zeit befielen. Dabei zweifelt man ihr fraglos großes Können gar nicht an, aber das gelegentliche Erschlaffen des Schreibbegehrens verursachte auch eine Anstrengung, hinter der ein Gelangweilsein lauerte (Andre Gides Tagebuch krankt etwa um die Jahre 1903,1904 und 1905 an dem Konzept der Erlebnisaufzeichnung, was dem Verfasser spürbar Mühe bereitet; sein Interesse, einen Teil der Realität ‚abzuschreiben’, ist eigentlich erloschen). Das Ausleben narzisstischer Züge (im Text und im Leben) kompensierte schließlich diese Unsicherheit.

Roland Barthes

Ich lese jeden Tag so um die zwei Stunden Roland Barthes „Die Vorbereitung des Romans“. Während ich auf der Müllerstraße spazieren gehe, lese ich – und kann nicht aufhören. Ich stehe an der Supermarktkasse, ich lese Roland Barthes. Gestern erzählte mir eine Freundin, sie sei in den letzten Wochen in London, Paris und New York gewesen. „Das gibt mir nichts.“, antwortete ich. „Ich lese Roland Barthes.“

Terminator

Etwa vor einer Woche gesehen: Terminator zwei, Tag der Abrechnung. Wahrscheinlich das fünfte Mal gesehen. Drei Grundelemente der Filmsprache fielen mir auf.
1. Die Gesichter der Schauspieler drücken sehr starke (eigentlich immer übertrieben starke) Emotionen aus. Dieses Element hat sich seit den Zeiten des Stummfilms überhaupt nicht gewandelt. In den Gesichtern steckt stets die ganze affektive Energie der Bildersprache. Erst die Mimik reißt den passiven Zuschauer in ein ungeheuerliches Beteiligsein. Die besondere Dialektik beim Terminator-Film ist, dass die von Schwarzenegger gespielte Maschine (Frankenstein-Motiv, Rückgriff auf die Romantik) kaum Mienenspiel aufweist. Das Gesicht ist unbeweglich, indolent. Steht im Kontrast zu den Gesichtern der Menschen, die stets am Rande einer Hysterie sich befinden. Das „menschliche“ Gesicht der Maschine fängt die grellen und schrillen Affekte der ihm fremden menschlichen Wesen auf (Fremd, weil er nie begreift, wie Emotionen entstehen. Die Affekte sind aber nicht nur für die Maschine der eigentliche Skandal im Leben). Hinter dieser Dialektik lauert das kollektive Wunsch-Bild einer automatisierten, aber dafür funktionierenden, väterlichen Autorität. Das Versagen der amerikanischen Präsidenten ist das Versagen der Überväter.
2. Die Gestensprache. Kodiert. Manchmal automatisiert. Beispiel: Der Junge macht einmal das Zeichen der NBA-Schiedsrichter und ruft „OK, Auszeit“. Um 1920 herum wäre eine solche Geste nicht möglich gewesen. So wie manche Gesten heute (vor allem im Zusammenhang mit romantischen Szenen) aus der Stummfilmzeit (weil der Diskurs um Sexualität im Film noch nicht geführt wurde) völlig fremd, ja unfreiwillig komisch und grotesk anmuten.
3. Der Film operiert dauernd mit dem Bildausschnitt. Das heißt, dass dieser suggeriert, dass außerhalb seines Radius das Eigentliche, das Entscheidende passiert. Und dass es bald geschieht (Immer gibt es den kurzen spekulativen Sprung in eine Zukunft, der dann aber gleich von der Gegenwart eingeholt wird).
Dazu zwei Überlegungen.
A: Terminator gilt nicht als Kunst. Der Film ist Mainstream, er ist Hollywood, er dient also der Zerstreuung. Feststellung: Mit einem traditionellen Kunstbegriffverständnis kommt man nicht sehr weit. Offensichtlich braucht man hier eine Poptheorie, die umreißen kann, wie der Film sich (oftmals unbewusst) Anleihen aus der Tradierung von Drama und Tragödie erlaubt – sie verwandelt. Oder sogar unfreiwillig daran erinnert, wie es einmal war, 1678 in einem Versailler Theater zu sitzen und von einer Tragödie von Racine ergriffen zu werden (Die Tragödie der Maschine, die begreift, dass sie nie ganz Mensch sein kann - und sich dann selbst zerstört. Schöner, anrührender Augenblick im Terminator-Film. Die hemmungslose Trauer des Jungen, der – ja, was? – den Kameraden, den Vater, das andere oder seine eigene Schöpfung? verliert).
B: Der Film, so der französische Philosoph Bergson vor hundert Jahren, weist auffällige Ähnlichkeit mit der Struktur unseres Denkens auf. Jede Bewegung speist sich aus unzähligen Standbildern. Ergo aus Bewegungslosigkeit, Stillstand puzzelt das Auge (das sehende Denken) die sich bewegende Wirklichkeit zusammen. Das bedeutet wiederum: Jeder Denkvorgang setzt einzelne intellektuelle und sinnliche Eindrücke zusammen. Der Film, so Bergson, kopiert diesen Vorgang. Hinzufügung: Deswegen entsteht auch oft die emotionale Nähe beim Schauen. Einen kleinen Augenblick können wir nicht mehr sehen, dass das Dargebotene Fiktion, Inszenierung ist. Wir halten es für ein Abbild der Realität. Beziehungsweise vergessen wir, dass wir in einem „Theater“ gewesen sind.
C: Beide Terminator-Filme (ja, ich weiß, es gibt einen dritten, aber den beziehe ich jetzt nicht mit ein) enden in einer Fabrik. Unbewusst (oder mehr: unfreiwillig) ein metaphorischer Verweis auf Shelleys Frankenstein, der während der heißen Industrialisierungsphase (um 1820 herum) entstand. Die Menschmaschine kehrt an den Ort ihrer Herstellung (Geburt) zurück, beziehungsweise an einen Ort, der auf die Fabrikation von mechanischen Geräten spezialisiert ist. Durch diese Rückkehr entsteht eine dramatische Überspitzung, die wiederum die symbolische Überhöhung mit einbezieht.